- Vietnamkrieg: Amerikas Desaster
- Vietnamkrieg: Amerikas DesasterZu Beginn der Sechzigerjahre befanden sich die USA in einer tiefen Bewusstseinskrise, nachdem der Ostblock unter Führung der Sowjetunion Sieg um Sieg errungen hatte: Technologisch schien die UdSSR sogar an der westlichen Führungsmacht vorbeigezogen zu sein — man denke an den Start des Sputniks 1957 und den Abschuss eines amerikanischen U-2-Aufklärungsflugzeugs über sowjetischem Gebiet 1960 —, und auch politisch befanden sich die Kommunisten überall auf dem Vormarsch, wie vor allem die kubanische Revolution, der Umsturz unmittelbar vor der amerikanischen »Haustür«, signalisierte. Diese Revolution wurde mit dem Sieg Fidel Castros über den Diktator Fulgencio Batista eingeleitet. Auch in Asien, vor allem in Indochina, schienen die Verbündeten des Westens inzwischen auf verlorenem Posten zu stehen. Seit Frankreich in Dien Bien Phu im nördlichen Vietnam kapituliert und sich im Gefolge der Genfer Indochinakonferenz von 1954 aus seinem dortigen Kolonialgebiet zurückgezogen hatte, war der kommunistische Norden Vietnams dazu übergegangen, den Süden zu infiltrieren, wobei offenkundig auch militärische Mittel zum Einsatz kamen. Beweise hierfür lieferten die Beschlüsse des III. Parteitags der Lao Dong (Partei der Vietnamesischen Werktätigen), aus der 1976 die Kommunistische Partei Vietnams hervorgehen sollte, vom September 1960, vor allem aber die gleichzeitige Gründung der südvietnamesischen Nationalen Befreiungsfront (FNL), die sich gemäß ihren programmatischen Aussagen einen besonderen militärischen Arm zulegen wollte. Diese Rolle übernahmen die Guerillakämpfer der Rebellenbewegung Vietcong. Die amerikanische Regierung unter John F. Kennedy, der 1961 das Erbe Dwight D. Eisenhowers angetreten hatte, beschäftigte sich deshalb von Anbeginn an mit neuen Strategien zur Abwehr der Kommunisten. Diese Strategien basierten zwar nach wie vor auf der Dominotheorie, die von der fortschreitenden Ausbreitung des Kommunismus in Ost- und Südostasien ausging und auf eine Eindämmung oder vielleicht sogar auf ein Zurückdrängen des kommunistischen Einflusses zielte, doch sollten sie das überholte Konzept der massiven Vergeltung durch eine Politik der flexiblen Erwiderung ersetzen.Militäraktionen unterhalb der KriegsschwelleKaum hatte die neue Abwehrdoktrin das Licht der Welt erblickt, schien sich Vietnam als Experimentierfeld geradezu aufzudrängen. In der Tat verlor Präsident Kennedy keine Zeit und ließ von seinen Beratern den Staley-Taylor-Plan ausarbeiten, der, nach den beiden Hauptautoren benannt, einen sublimited war vorsah, das heißt eine Kriegführung unterhalb der Schwelle zum offenen Krieg. Kennedy erhoffte sich von dieser Strategie eine »Befriedung« Vietnams innerhalb von nur 18 Monaten, also bis spätestens Herbst 1962. Dabei hatte er selbst den Kampf in Indochina sieben Jahre zuvor für aussichtslos erklärt: »Ich bin, offen gestanden«, so beurteilte er die Lage, »davon überzeugt, dass keine noch so große Militärhilfe der USA in Indochina einen Feind besiegen kann, der überall und zur gleichen Zeit nirgends ist, einen Feind des Volks, der gleichzeitig die Sympathie und die heimliche Unterstützung des Volks genießt.«Kennedys neues Konzept eines jetzt anzupeilenden Sonderkriegs (special war), wie es in der Folgezeit schon bald auch in die Praxis umgesetzt wurde, operierte mit drei Hauptelementen: Erstens wurde die südvietnamesische Dorfbevölkerung, soweit sie in den von Guerillakämpfern infiltrierten Gebieten lebte, auf rund 16000 stacheldrahtbewehrte »strategische Dörfer« umgesiedelt, um so die Aufständischen daran zu hindern, wie »Fische im Wasser des Volkes zu schwimmen«. Zweitens erreichten die Streitkräfte der südvietnamesischen Regierung bis 1964 eine Stärke von rund 500000 Mann, wobei die USA sowohl moderne Waffen als auch etwa 25000 »Berater« zur Verfügung stellten. Drittens entstand im Februar 1962 in Saigon ein besonderes Militärkommando (military assistance command), das nicht nur den Einsatz der »Berater« leiten sollte, sondern auch selbstständige Operationen amerikanischer Einheiten steuerte. Zwei Arten von Spezialeinheiten erwarben sich in diesem Zusammenhang einen höchst zwielichtigen Ruf, einmal die — nach ihrer Kopfbedeckung so benannten — green berets des amerikanischen Heeres, dann die »Ledernacken«, die von der US-Marine in den Kampf geschickt wurden. Mit ihrem martialischen Gehabe, ihrer selbst gewählten Symbolik wie der Helmaufschrift born to kill, »zum Töten geboren«, und ihrer Brutalität gegen alles, was nach feindlichem Vietcong aussah, bewirkten sie nicht etwa die beabsichtigte Befriedung innerhalb von 18 Monaten, sondern eher das Gegenteil, nämlich den Schulterschluss zahlloser Bauern mit den Kommunisten. Als immer mehr amerikanische »Befriedungsaktionen« ins Leere stießen und schließlich auch noch der sowohl innen- als auch militärpolitisch glücklos operierende Präsident Ngo Dinh Diem am 2. November 1963 ermordet wurde, mussten die USA, deren Präsident Kennedy fast zur gleichen Zeit einem Mordanschlag zum Opfer fiel, eine neue Richtungsentscheidung treffen. Sie lautete: Rückzug aus Vietnam oder militärische Eskalation.Vom Sonderkrieg zum lokalen KriegSchon kurz nach seinem Amtsantritt setzte Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson im Februar 1964 ein Programm geheimer militärischer Operationen gegen den Staat Nord-Vietnam in Kraft (»Operationsplan 34A«), das im Gefolge der Aufsehen erregenden Veröffentlichung der geheimen Pentagonpapiere 1971 auch ans Licht der Öffentlichkeit gelangte. Angesichts der »Aggression aus dem Norden« sollte, so diese Dokumente, die bisher flexible Strategie zwar beibehalten, erforderlichenfalls aber auch ausgeweitet werden. Gleichzeitig wurden mit verstärktem Druck die Luftlandestützpunkte und Basen in Da Nang, Saigon und Pleiku ausgebaut, auch die Waffenlieferungen erhöht sowie die militärischen Ausbildungsbemühungen intensiviert — in Nord-Vietnam (durch die UdSSR) übrigens ebenso wie im Süden (durch die USA). Die Pulverfässer waren gefüllt und standen bereit. Der Funke sprang 1964 über, als es im Golf von Tongking nach geheimen amerikanischen Operationen gegen Nord-Vietnam am 2. August zu einem Feuergefecht zwischen zwei amerikanischen Zerstörern und nordvietnamesischen Torpedobooten kam. Am 5. August folgte, wie Johnson es ausdrückte, die amerikanische »Gegenaktion« in Form von Luftangriffen auf Versorgungslager in Nord-Vietnam. Zu diesem Vergeltungsschlag kam es ohne vorherige Kriegserklärung. Bereits am 7. August stellten sich beide Häuser des Kongresses mit nur zwei Gegenstimmen hinter eine Resolution, die Johnson praktisch uneingeschränkte Vollmacht zur Kriegführung in Vietnam gab. Erst 1970, anlässlich der versuchten Ausweitung des Kriegs nach Kambodscha, wurde diese Generalvollmacht vom Senat widerrufen. Vorerst freilich hatte die Administration Johnson freie Hand für den Übergang vom Sonderkrieg zum örtlich begrenzten Krieg (local limited war), der an drei Fronten geführt wurde, nämlich im Norden gegen die Demokratische Republik Vietnam, im Süden gegen die kommunistisch geführten Guerillakämpfer und dazwischen gegen Nachschubrouten, vor allem den Ho-Chi-Minh-Pfad.An den Verhandlungstisch oder zurück in die Steinzeit bombenUnter der Parole Rolling Thunder (Rollender Donner) begannen die Militäraktionen ab 1965 voll anzulaufen und zwar entsprechend der Doppelstrategie eines Luftkriegs einerseits und eines Bodenkriegs andererseits. Ziel der Luftangriffe, die auch mit den »fliegenden Festungen« vom Typ B52 geführt wurden, war es gemäß offizieller Sprachregelung, den Gegner »an den Verhandlungstisch zu bomben«; zynischer drückte es der amerikanische Luftwaffengeneral Curtis E. LeMay aus, der Vietnam »zurück in die Steinzeit bombardieren« wollte. Von Februar 1965 bis Ende Oktober 1968 flog die amerikanische Luftwaffe 107700 Angriffe und warf dabei 2,5 Millionen Tonnen Bomben ab — mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Diese Bombenangriffe richteten sich nicht nur gegen Nachschublager und Militäreinheiten, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung. Schon Ende 1968 waren nicht weniger als 40 Prozent aller Ortschaften Nord-Vietnams in Rauch und Flammen aufgegangen. Bei den Luftangriffen wurde das schmale Vietnam von Osten her, von der Insel Guam und der 7. Flotte, und von Westen, von Thailand aus, regelrecht in die Zange genommen.Die Bevölkerung in Nord-Vietnam und in den zur Bombardierung freigegebenen Zonen des Südens hatte nur die Möglichkeit, sich immer raffinierter ausgeklügelte Luftschutzbunker zu errichten und die Siedlungen in Wehrdörfer umzuwandeln, in denen nicht nur gekämpft, sondern auch produziert, unterrichtet und ärztlich betreut wurde. Zur vollen Entfachung des Bodenkriegs landeten ab Mai 1965 immer neue Kontingente amerikanischer Bodentruppen, die Ende 1968 den Höchststand von 543000 Mann erreicht hatten und noch von südkoreanischen, thailändischen, australischen und neuseeländischen Verbänden ergänzt wurden. Obwohl auch Süd-Vietnam mittlerweile über eine halbe Million Mann unter Waffen stehen hatte, blieb es am Ende doch bei einer Amerikanisierung des Kriegs, da die US-Stäbe strategisch das Sagen hatten, hauptsächlich mit amerikanischen Waffen gekämpft wurde und auch laufend neue amerikanische Stützpunkte aus dem Boden gestampft wurden, angefangen von Da Nang über Nha Trang und Cam Ranh bis hinunter nach Bien Hoa und hinüber nach Pleiku. Bis 1968 bestand die Haupttaktik dieser amerikanisierten Kriegführung im Aufspüren und Vernichten des Gegners (search and destroy).Agent Orange gegen grüne KriegführungDie nordvietnamesischen und die Vietcongverbände beantworteten dieses Vorgehen mit einer Art grüner Kriegführung. Sie war aufs Engste mit der vietnamesischen Erde verbunden: Immer häufiger kämpften ihre Einheiten aus der Deckung der Dschungelgebiete heraus. Auch entstanden zahllose Tunnel, in denen die »Bo Doi« (»Kämpfer«) wegtauchen konnten. Und mehr: Diese Tunnel verunsicherten den Gegner, weil sie mit bambusnadelbewehrten Tigergruben (booby traps) flankiert waren. Darüber hinaus entwickelte sich eine »grüne Logistik«, und zwar vor allem im Bereich des Ho-Chi-Minh-Pfads, mit dessen Ausbau bereits in der 2. Hälfte der Fünfzigerjahre — also noch viele Jahre vor dem eigentlichen Beginn des Vietnamkriegs — begonnen worden war. Dieses Wegesystem zur Versorgung der nordvietnamesischen Truppen war im Laufe der Zeit ständig erweitert worden und hatte sich bis zum Kriegsende zu einem Spinnennetz von insgesamt 16000 km Länge mit fünf Hauptstraßen und 21 Nebenstraßen verzweigt, wobei die wichtigsten Teile durch Ostlaos und Ostkambodscha verliefen. Die Tarnung des Ho-Chi-Minh-Pfads war so perfekt, dass sein Vorhandensein erst zu Beginn des Vietnamkriegs entdeckt wurde. Sogleich war dieses Wegesystem dann zum Ziel intensivster Bombardements durch die amerikanische Luftwaffe gewählt worden. Hanoi hatte die Parole ausgegeben, dass der Nachschub auf dieser Hauptinfiltrationsroute nach Süd-Vietnam »nicht eine Sekunde lang« zum Stillstand kommen dürfe — und in der Tat hielten sich die Kombattanten und Zivilisten mit ihren Lastwagen, Ochsenkarren und Fahrrädern an diese Vorgabe. Da der Pfad meist uneinsehbar war und die ihn bedeckenden Laubkronen häufig noch dadurch zusätzlich begrünt wurden, dass man mit Orchideen und Schlinggewächsen bepflanzte Töpfe in die Baumkronen hängte, behalfen sich die Amerikaner im Gegenzug mit Entlaubungsaktionen. Sie versprühten das nach seiner Farbe benannte dioxinhaltige Agent Orange, und so wurde insgesamt eine Waldfläche von der Größe Baden-Württembergs vernichtet. Eine verheerende Begleiterscheinung dieser »schmutzigen« Kriegführung war, dass ungezählte Menschen an Leberkrebs, Epilepsie und Allergien aller Art erkrankten. Um den Ho-Chi-Minh-Pfad zu blockieren, stießen südvietnamesische Einheiten mit amerikanischer Unterstützung 1970 und 1971 auch nach Ostkambodscha und Ostlaos vor. Doch blieben diese Operationen nicht zuletzt deshalb folgenlos, weil der amerikanische Kongress jetzt weitere Einsätze auf Süd-Vietnam beschränkte. Die vom Pentagon versuchte Ausweitung des Kriegs auf Kambodscha und Laos führte zu verstärkten amerikanischen Antikriegsdemonstrationen, vor allem an den Universitäten. Bei einer dieser Protestaktionen gegen die Invasion Kambodschas wurden im Mai 1970 an der Kent State University in Ohio vier Studenten von der Nationalgarde erschossen. Ein Aufschrei ging damals durch die amerikanische Öffentlichkeit.Die Wende des Kriegs durch die Tet-Offensive 1968/69Wie schlecht es um die Siegesaussichten der USA auch nach vier Jahren Krieg noch bestellt war, sollte vor allem nach dem traditionellen Neujahrsfest der Vietnamesen am 30. Januar 1968 deutlich werden: Wie aus heiterem Himmel begann vom folgenden Tage an jener Großangriff der Vietcong, der als Tet-Offensive in die Geschichte eingegangen ist. Sie zog nahezu sämtliche Provinz- und Kreishauptstädte des Südens, vor allem aber Huê und Saigon in Mitleidenschaft. Zwar mussten die Angreifer ihre Offensive, die militärisch zuletzt ohne durchgreifenden Erfolg blieb, mit 38000 Toten bezahlen, doch wirkte sich das Vorgehen der Vietcong politisch- psychologisch verheerend auf die Moral der Soldaten und der amerikanischen Öffentlichkeit aus. »Der Sieg ist zum Greifen nahe« (victory is 'round the corner), hatte Präsident Johnson die Nation immer wieder glauben machen wollen — und nun hatten sich die Vietcong überall festgesetzt, selbst das Dach der amerikanischen Botschaft hatten sie erklettert. Psychologisch war die Tet-Offensive eine Art Stalingrad für die Amerikaner; in der Tat haben Nord-Vietnam und der Vietcong bis zum Ende des Kriegs die strategische Initiative nie wieder abgeben müssen. Die Tet-Offensive versetzte die amerikanische Öffentlichkeit geradezu in nationale Hysterie. In diesem Wahljahr 1968 sollte das Ansehen Präsident Johnsons schweren Schaden nehmen. Am 31. März des Jahres gab er seinen Verzicht auf die Präsidentschaftskandidatur bekannt; am 13. Mai begannen in Paris Waffenstillstandsgespräche mit Nord-Vietnam und der Provisorischen Revolutionsregierung Süd-Vietnams. Am 1. November 1968 wurden die Bombenangriffe gegen Ziele in Nord-Vietnam eingestellt.Die »Vietnamisierung« des KriegsDer als Nachfolger Johnsons 1968 neu gewählte Präsident Richard M. Nixon wollte als »Friedenspräsident« in die Geschichte eingehen. Er hatte von Anbeginn an die Devise ausgegeben, dass der Krieg in Vietnam fortan »entamerikanisiert« und gleichzeitig »vietnamisiert« werden müsse. Zu seinem Sicherheitsberater ernannte er den deutschstämmigen Harvard-Politologen und zeitweiligen Berater Kennedys und Johnsons, Henry A. Kissinger, der sich denn auch sogleich als Hauptanwalt der Pariser Verhandlungen profilierte, eine »Kombination von Härte und Diplomatie« forderte und als erster Vertreter der amerikanischen Regierung den Grundsatz vom »ehrenhaften Frieden« — anstelle des bisher stets geforderten militärischen Siegs — verkündet hatte. Auch das militärische Vorgehen stützte sich jetzt nicht mehr auf die bisherige Leitlinie des search and destroy, sondern wesentlich defensiver auf die Leitlinie clear and hold (Säubern und Halten). Nicht zuletzt aber begann mit dem Amtsantritt Nixons auch der schrittweise Rückzug der amerikanischen Streitkräfte, deren Zahl 1970 noch 428000 Mann betrug, 1972 aber nur noch 78000. Als Ausgleich dafür wurde im Gegenzug umso energischer ein forcierter Ausbau der Streitkräfte Süd-Vietnams betrieben. Ausgestattet mit erstklassigen Waffen, sollte die südvietnamesische Armee zeitweilig zur (nach China) zweitgrößten und modernsten Militärmaschinerie Asiens hochgerüstet werden.Und was geschah in Nord-Vietnam? Für das aus allen Wunden blutende Land bedeutete die Einstellung des Bombardements eine Atempause und einzigartige Chance zur Neuformierung der Truppen, zur Reorganisation der Industrie sowie zum weiteren Ausbau der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, die mit Rat und Tat, vor allem aber mit modernen Waffen und Flugabwehrraketen zur Stelle war, während die Volksrepublik China zur gleichen Zeit zu ihrem Nachbarn im Süden immer mehr auf Distanz ging. Präsident Nixon folgte sogar einer Einladung der chinesischen Führung und reiste im Februar 1972 nach Peking. Die eigentliche Nagelprobe für Nixons Strategie der Vietnamisierung kam im Jahre 1972, als Nord-Vietnam seine Osteroffensive startete. Diese Offensive war, wie sich später herausstellen sollte, ein erster Schritt zur endgültigen »Befreiung« des Südens. 1972 trat die Vietnamesische Volksarmee zum ersten Mal als eine modern operierende Armee mit Panzern und Artillerie auf, die den zahlenmäßig und waffentechnisch überlegenen Truppen Saigons herbe Verluste zufügte. Es gelang ihr, der Republik Süd-Vietnam ein Gebiet mit rund 2,5 Millionen Einwohnern zu entreißen, sodass das Regime des südvietnamesischen Präsiden- ten Nguyen Van Thieu auf Areale um Saigon herum zusammenschrumpfte. Der Erfolg des Nordens machte aber auch unmissverständlich klar, dass Nixons so nachhaltig propagierte Vietnamisierung des Kriegs gescheitert war.In dieser katastrophalen Situation versuchte der Präsident zu retten, was noch zu retten war. Allerdings kam eine erneute Entsendung amerikanischer Bodentruppen nun keinesfalls mehr in Betracht. Als einzige Möglichkeit verblieb folglich die Wiederaufnahme der Bombenangriffe auf Nord-Vietnam, die der Präsident am 18. Dezember 1972 anordnete; sie erreichten ihren Höhepunkt in der Weihnachtswoche desselben Jahres. Erneut durchlitt die nordvietnamesische Stadtbevölkerung das Martyrium pausenloser Bombardierungen. Schon zuvor, im April desselben Jahres, waren die Luftangriffe auf nordvietnamesische Ziele zeitweilig wieder aufgenommen worden, und am 8. Mai hatte Nixon überdies die Verminung der Eingänge zu sämtlichen nordvietnamesischen Häfen angeordnet. Diese Maßnahmen fielen mitten in die vertraulichen Gespräche in Paris zwischen Kissinger und dem nordvietnamesischen Bevollmächtigten Le Duc Tho, um den kommunistischen Norden so zu Zugeständnissen zu zwingen. Das neuerliche massive Bombardement der amerikanischen Luftwaffe im November 1972 erwies sich jedoch als Debakel: Mit sowjetischer Unterstützung hatte sich die vietnamesische Flugabwehr mittlerweile so grundlegend modernisiert, dass sogar die strategischen Bomber vom Typ B-52, die mit ihrer Flughöhe von 16 bis 17 km bisher als unerreichbar galten, in Massen abgeschossen werden konnten. Allein zwischen dem 18. und dem 30. Dezember 1972 wurden nicht weniger als 33 dieser Bomber vom Himmel geholt. Am 15. Januar 1973 sah sich Nixon gezwungen, die Bombardements einzustellen — diesmal für immer. Das schien nun militärisch geboten, aber auch aus innenpolitischen Gründen. Denn inzwischen machte die Watergate-Affäre dem Präsidenten schwer zu schaffen. Bereits sieben Tage später, nämlich am 22. Januar, paraphierten die Chefunterhändler Le Duc Tho und Henry Kissinger ein Waffenstillstandsabkommen, das am 27. Januar desselben Jahres durch alle vier beteiligten Parteien, die Provisorische Revolutionsregierung Süd-Vietnams, Saigon, Hanoi und Washington, feierlich unterzeichnet wurde.Das Waffenstillstandsabkommen von ParisDie Pariser Vereinbarung ermöglichte den Amerikanern, beim Rückzug aus Vietnam das Gesicht zu wahren, bedeutete aber kaum die Beendigung des Kriegs. Mit Skepsis und Gleichmut wurde die »Friedensnachricht« denn auch von der südvietnamesischen Bevölkerung aufgenommen. »Welcher Krieg ist zu Ende?«, fragte eine besorgte vietnamesische Frau den Reporter eines amerikanischen Fernsehteams, »vielleicht der Krieg der Amerikaner — aber unserer?« Diese Skepsis sollte noch schmerzlich Recht behalten.Die Pariser Vereinbarung bestätigte erneut die Unabhängigkeit und territoriale Integrität Kambodschas, wie sie bereits die Genfer Indochinakonferenz von 1954 anerkannt hatte (Artikel1). Beiden Krieg führenden Parteien wurde eingeräumt, ihre Streitkräfte dort zu belassen, wo sie sich zur Zeit des Waffenstillstands befunden hatten (Artikel3). Damit war auch die Anwesenheit von FNL-Verbänden in den von ihnen »befreiten« Gebieten anerkannt. Ferner sollte das »südvietnamesische Volk« seine politische Zukunft selbst bestimmen können, wobei die friedliche Wiedervereinigung mit dem Norden Schritt für Schritt einzuleiten sei (Artikel 15). Die USA verpflichteten sich, ihre Truppen zurückzuziehen, ihre Militärbasen zu räumen (Artikel 5/6), die Verminung der vietnamesischen Gewässer einzustellen und die verlegten Minen wieder zu räumen. Im Grunde wurde mit diesem Abkommen aus Sicht der USA das Scheitern der Vietnampolitik von vier amerikanischen Präsidenten, Eisenhower, Kennedy, Johnson und Nixon, eingeräumt und gleichzeitig unausgesprochen das Fundament für eine Fortsetzung der Kämpfe gelegt, diesmal allerdings ohne direkte Beteiligung der USA.Die Tinte der Schriftzüge unter diese Vereinbarung war noch nicht trocken, da begannen seitens beider Kriegsparteien bereits gewaltige Nachschublieferungen an Waffen und Gerätschaft anzurollen, deren Umfang, was Süd-Vietnam anbelangte, sogar die Lieferungen während der Phase der Vietnamisierung noch einmal in den Schatten stellte. Während die sowjetische Logistik für Nord-Vietnam in aller Stille funktionierte, wurden die amerikanischen Lieferungen für Süd-Vietnam sozusagen vor den Augen der Weltöffentlichkeit abgewickelt. Die kritische Öffentlichkeit attackierte nun insbesondere auch die »Beratertätigkeit« der Amerikaner, die jetzt neue Dimensionen erreichte, wobei diese »Berater« nicht mehr Uniform, sondern unauffälliges Zivil trugen. Ihre Zahl umfasste seit Mitte 1973 etwa 25000 Mann. Ihre kommunikativen Stränge liefen fast ausnahmslos bei der Botschaft der Vereinigten Staaten in Saigon zusammen — kein Wunder, dass die dortige Botschaft von Kritikern als Ost-Pentagon bezeichnet wurde, das sich als allemal »gefechtsbereites Zentrum« in nichts vom Hauptquartier der früheren Kriegszeit unterscheide. Doch war die Effizienz des von den »Beratern« unterstützten Saigoner Regimes mittlerweile sehr gering. Bei der Ho-Chi-Minh-Offensive vom März und April 1975 brach das Verteidigungssystem Süd-Vietnams dann auch fast wie ein Kartenhaus zusammen. Am 30. April des Jahres rollten nordvietnamesische Panzer in Saigon ein. Sechs Stunden vor ihrem Eintreffen hatte der letzte amerikanische Botschafter die Hauptstadt fluchtartig per Hubschrauber verlassen. Die »Berater« waren schon in den Tagen zuvor ausgeflogen worden — ein gar nicht hoch genug zu veranschlagender Gesichtsverlust für die Weltmacht USA vor der Kulisse Asiens!Opferbilanz, Trauerarbeit — und neue OpferErst am 30. April 1995 veröffentlichte Hanoi erstmals Verlustzahlen aus dem Vietnamkrieg. Danach sind zwischen 1954 und dem 30. April 1975 nicht weniger als drei Millionen vietnamesische Soldaten und Zivilisten getötet worden. 1,1 Millionen Soldaten fielen auf dem Schlachtfeld, 600000 wurden verwundet und 300000 gelten bis heute als vermisst. Zu den Toten zählen auch die Guerillakämpfer des Vietcong, die im Rücken der südvietnamesischen Truppen operiert hatten. Da Nord-Vietnam die Zahl der Opfer immer wieder heruntergespielt hatte, um die eigene Bevölkerung nicht zu entmutigen, waren frühere westliche Schätzungen von nur etwa 660000 gefallenen Nordvietnamesen und Vietcong ausgegangen. Die Zahl der getöteten Zivilisten des Vietnamkriegs belief sich auf etwa zwei Millionen; weitere zwei Millionen hatten nur als Invaliden überleben können. Nochmals zwei Millionen waren giftigen Chemikalien ausgesetzt gewesen, sodass es im Gefolge des Vietnamkriegs zur Geburt von rund 500000 missgebildeten Kindern kam. Außer dem Zentrum von Hanoi, das aus politischen Rücksichten verschont wurde, waren die großen Städte Nord-Vietnams weitgehend zerstört und sämtliche Provinzhauptstädte in Mitleidenschaft gezogen worden. Auch die Eisenbahnlinien, Straßen, See- und Flughäfen hatten verheerende Bombenschäden erlitten. 68 von 70 Staatsgütern, 1600 Wasserstauwerke, mehr als 1000 Deichanlagen, nahezu 3000 Schulen und 350 Krankenhäuser waren Opfer der Bombenhagel geworden. Im Süden hatte der Krieg 9000 verwüstete Dörfer (von insgesamt 16 000), zehn Millionen Hektar vergiftetes Kulturland und fünf Millionen Hektar vernichtete Wälder hinterlassen.Auf alliierter Seite waren 223748 südvietnamesische und 58 200 amerikanische Soldaten getötet worden. Den 300 000 nordvietnamesischen Vermissten stehen bis heute noch etwa 2000 vermisste amerikanische Soldaten gegenüber. Die Amerikaner haben den Vietnamkrieg verloren, weil es bei ihnen und ihren Alliierten vor allem an der nötigen Kampfmoral mangelte und überdies der Willen gefehlt hatte, einen umfassenden Bodenkrieg zu führen. Nord-Vietnam und der Vietcong wussten die Bevölkerung auf ihrer Seite, weil sie ihr die Ziele und Strategien eines Volkskriegs hatten plausibel machen können, weil sie es ferner verstanden, sich den wechselnden Anforderungen des Kriegs flexibel anzupassen — von der reinen Guerilla- bis hin zur offenen Kriegführung — und weil sie sich auf die Sowjetunion als Lieferanten moderner Rüstungsgüter verlassen konnten.Amerika: Krise des nationalen SelbstverständnissesNicht zuletzt aber war die amerikanische Kriegführung ein Opfer des damals nach links gerückten Zeitgeists geworden. Ab Mitte der Sechzigerjahre entwickelte sich in den USA eine Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg, die zugleich auf die Bürgerrechtsbewegung einwirkte und in eine allgemeine Auflehnung gegen die bestehende Gesellschaftsordnung überging. Amerikanische Kritiker aus Politik und Publizistik, die den Krieg als Teil eines Globalismus, einer weltweiten Übernahme der Verantwortung im Kampf gegen kommunistische bzw. des Kommunismus verdächtige Kräfte sahen, wiesen darauf hin, dass diese Haltung zu einer Überforderung der amerikanischen Kräfte und letztlich zum Niedergang des amerikanischen Einflusses in der Welt führe. Die aus der Protestbewegung entstehende neue Linke kritisierte den Vietnamkrieg als Manifestation des internationalen Klassenkampfs der Dritten Welt gegen Kapitalismus und Imperialismus. Angesichts der vor allem für die vietnamesische Zivilbevölkerung verheerenden Auswirkung des Kriegs, der mit zunehmender Härte und Brutalität geführt wurde, und angesichts der trotz ungeheuren technischen Aufwands militärisch aussichtslosen Lage kam es in den USA zu einer schweren Krise des nationalen Selbstverständnisses — forciert auch durch die Veröffentlichung der bereits genannten geheimen Pentagonpapiere, die die Vorgeschichte des amerikanischen Engagements in Indochina aufdeckten. Der Protest gegen den Vietnamkrieg griff auch auf die westlichen Staaten Europas über, besonders auf die Studentenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, und trug zum Ansehensverlust der USA im Ausland bei.Vietnam: Den militärischen Sieg politisch wieder verspielenIm Zuge der gewaltsamen Revolutionierung der südvietnamesischen Gesellschaft hatte die Provisorische Revolutionsregierung Süd-Vietnams bereits 1975 nach ihrer Machtübernahme Amtsträger und Anhänger der gestürzten Republik Vietnam aus der Verwaltung Süd-Vietnams entfernt und in Umerziehungslager eingewiesen. Die Kommunistische Partei Vietnams wurde die allein maßgebliche Kraft in ganz Vietnam. Neben der Angleichung des südvietnamesischen Wirtschaftssystems an das von Nord-Vietnam vorgegebene System der Planwirtschaft sah sich die Regierung vor die Aufgabe gestellt, den Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Wirtschaft einzuleiten und ein Millionenheer von Arbeitslosen, demobilisierten Soldaten und anderen Entwurzelten wieder einzugliedern. Die Regierung setzte ein Umsiedlungsprogramm durch, unter anderem die zwangsweise Ansiedlung von über einer Million Bewohnern Saigons, das seit 1976 Ho-Chi-Minh-Stadt hieß, in neuen Wirtschaftszonen. Hunderttausende Vietnamesen flohen damals über See (Boat people) ins nichtkommunistische Ausland.1978 ging die vietnamesische Regierung dazu über, eine expansionistische Außenpolitik zu betreiben. Nach Spannungen mit dem von den Roten Khmer regierten Kambodscha ließ Vietnam im Dezember 1978 dort Truppen einmarschieren und setzte Anfang Januar 1979 eine kommunistische Regierung ein. Die vietnamesischen Besatzungstruppen versanken im Sumpf eines zehnjährigen Guerillakriegs. Erst Reformbeschlüsse der vietnamesischen Regierung von 1986 und der freiwillige Rückzug der Truppen aus dem Nachbarland im Jahre 1989 schufen Ansätze für einen zweiten Neubeginn. Die Frage, ob der Vietnamkrieg all die jahrelangen Opfer wert war, da Vietnam mittlerweile ja auf einen — mit sozialistischen Parolen verbrämten — quasikapitalistischen Kurs eingeschwenkt sei, blieb in Vietnam streng tabuisiert.Dr. Oskar WeggelGrundlegende Informationen finden Sie unter:Südostasien: Die Folgen des Zweiten WeltkriegsDictionary of the Vietnam war, herausgegeben von James S. Olson. New York u. a. 1988.FitzGerald, Frances: Fire in the lake. The Vietnamese and the Americans in Vietnam. Neuausgabe New York 1989.Harrison, James P.: The endless war. Fifty years of struggle in Vietnam. New York u. a. 1982.Herz, Martin F.: The Vietnam War in retrospect. Four lectures. Washington, D. C., 1984.Ho Chi Minh: Gegen die amerikanische Aggression. Reden, Aufsätze, Interviews. Aus dem Französischen. München 1968.Le Duan: Ausgewählte Reden und Schriften 1973-1977. Aus dem Vietnamesischen. Berlin-Ost 1977.Cuong Ngo-Anh: Die Vietcong. Anatomie einer Streitmacht im Guerillakrieg. München 1981.Nguyen Khac Vien: Vietnam, a long history. Neuausgabe Hanoi 1993.Turley, William S.: The second Indochina War. A short political and military history, 1954-1975. Boulder, Colo., u. a. 1986.Vo-nguyen-Giap: Volkskrieg, Volksarmee. Aus dem Französischen. München 1968.
Universal-Lexikon. 2012.